Samira El Ouassil: "Radikalisierungspotential" von Geschichten
... damit wir etwas glauben oder verarbeiten können, muss die Geschichte, die wir uns darüber erzählen, gut sein. Was macht eine gute Geschichte aus? hat Timo Frasch die Publizistin und Autorin Samira El Ouassil ("Erzählende Affen - Mythen, Lügen, Utopien - Wie Geschichten unser Leben bestimmen", Ullstein) gefragt:
Samira El Ouassil: "Der Geschichtsforscher Kendall Haven hat vor zehn Jahren bei Probanden mithilfe eines Elektroenzephalogramms die Gehirnaktivität sowie durch Messungen von Herzschlag, Hautwiderstand und Hormonausschüttung untersucht, wie sich die biochemische Komposition im Körper verändert und was neuronal passiert, je nachdem welche Geschichte sie hören. Er konnte einzelne Parameter der gleichen Geschichte verändern, den Held mal sympathischer präsentieren, den Antagonisten mal noch antagonistischer machen.
Er kam dadurch auf eine komplizierte Formel, die man verkürzt so wiedergeben kann: Je strahlender der Held ist, je böser der Bösewicht und je größer die Herausforderung, die der Held zu bestehen hat, desto größer die Befriedigung, die wir durch Ausschüttung von Dopamin beim Happy End empfinden - um so größer aber auch die Abneigung gegenüber dem Feind.
Das amerikanische Militär unterstützte diese Untersuchung. Es wollte wissen, wie man Geschichten nutzen kann, um Überzeugungen von Menschen zu ändern. Havens Formel nannten sie in der internen Kommunikation "Radikalisierungspotential". Das zeigt, dass das Militär die Wirkmacht von Geschichten sehr gut verstanden hat."
aus: "Geschichten machen uns unsterblich" von Timo Frasch für das Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung