Stephan Krass: Abschreiben als Übung
... empfiehlt der Autor, der über die mangelnde Loyalität des weißen Blattes zum Schreibenden klagt "Unter der gespielten Unschuld, die das leere Blatt ausstrahlt, sehe ich Obstruktion." Was ihm dagegen hilft, in seinen Schreibflow zu finden, ist das Abschreiben fremder Texte. Damit meint er nicht das Kopieren sondern das Schreiben, um in den Text einzudringen, ihn vollends aufzunehmen:
"Abschreiben ist ja nicht ein stumpfsinniges Übertragen von Texten und Zeichen, sondern es bedeutet Auseinandersetzung ... Aneignung - ohne Besitzanspruch. (..) Abschreiben ist körperliche und geistige Arbeit, deshalb befriedigt es auch. Und alles Handschrift natürlich. Erst die persönliche Signatur beglaubigt den Text, auch den abgeschriebenen. Das schöne lateinische Wort 'copia' heisst Vorrat, Fülle, Reichtum. Und so fühlt sich der notorische Abschreiber: ausgefüllt und bereichert."
aus: "Lob des Abschreibens" von Stephan Krass - Neue Zürcher Zeitung 6.8.2016